DER STANDARD – Kommentar: „Mehr Macht den Kirchenmäusen“ von Gerald John

Beim Kehraus machen Parlamentarier oft schlechte
Figur. Im Akkord sollen sie abfertigen, was die Regierung an Gesetzen
noch rasch vor der Sommerpause durch den Nationalrat boxen will.
Tiefgründige Vorbereitung ist da kaum gefragt – gegen den Strich
bürsten schon gar nicht.
So gesehen hat DER STANDARD auf eine sichere Bank gesetzt, als er
diese Woche einigen Abgeordneten harmlose Fragen zum Fiskalpakt
stellte. Man soll nicht verallgemeinern, doch schon die erstbesten
herausgepickten Mandatare scheiterten an den einfachsten Regeln.
Nicht jeder Volksvertreter kann über jedes Detail Bescheid wissen –
dafür gibt es spezialisierte Bereichssprecher. Aber von zentralen
Elementen wie der im Pakt verankerten Schuldenbremse sollte ein
Parlamentarier am Abstimmungstag mehr als nur eine blasse Ahnung
haben.
Selbstfaller wie diese beleben Klischees, die an sich am Verblassen
waren. Seit der letzten Sommerpause sind die Volksvertreter ein Stück
weit vom Image des gefügigen Stimmviehs weggekommen. Im
Untersuchungsausschuss erkämpften sich die Mandatare Reputation als
Kontrolleure politischer Macht. Die intensive Skandalaufarbeitung hat
Licht in dunkle Ecken der Republik gebracht und ist, anders als
befürchtet, nicht ständig in parteitaktische Scharmützel und
narzisstische Privattribunale abgeglitten.
Auch auf dem Gebiet der Gesetzgebung eroberten die Abgeordneten
Terrain zurück. Das Sparpaket hat die Regierung – von wegen
parlamentarische Budgethoheit – zwar wieder an sich gerissen, wenn
auch nicht mit solch demütigender Präpotenz wie ein Jahr zuvor. Doch
an einem anderen zentralen Werk haben Mandatare eifrig mitgebastelt.
Abgesehen von der erhöhten Parteienförderung, die den Erfindern noch
gehörig um die Ohren fliegen wird, kann sich das mit Anstandsregeln
gespickte Transparenzpaket durchaus sehen lassen.
Damit aus den Lebenszeichen eine echte Auferstehung wird, gilt es
nun, die Nabelschnur zu jenen zu kappen, die Abgeordnete wirklich
gängeln: Das sind weniger schmierende Lobbyisten als die eigenen
politischen Chefs. Das Parlament ist deshalb so ohnmächtig, weil vor
allem die Mandatare der Koalition zu Gehorsam verdammt sind. Partei-
und Regierungsspitze wollen treue Erfüllungsgehilfen, Abweichler
riskieren den Vorwurf des Verrats. Jüngstes Beispiel: Es liegt auf
der Hand, dass die rote Protestwelle gegen den Fiskalpakt auch wegen
Drucks von oben jäh abgeebbt ist.
Die geplante Demokratiereform bietet eine Chance zur Emanzipation.
Dringlichster Schritt ist ein Persönlichkeitswahlrecht, dank dem
Bürger ihre Vertreter direkt in den Nationalrat wählen können. Hängt
die Karriere mehr vom Urteil der Wähler als vom Gehorsam zur
Parteizentrale ab, kann es sich kein Mandatar leisten, als
ahnungsloser Befehlsempfänger durchs Parlament zu stolpern. Diese
Reform wäre klüger als der Hype um Volksabstimmungen.
Funktionierender Parlamentarismus sucht Kompromisse und
berücksichtigt Minderheitenmeinungen, statt komplexe Fragen simplen
Ja-Nein-Antworten auszuliefern.
Wehren sollten sich die Volksvertreter gegen einen einseitigen
Sparkurs. Wenn schon ein geschrumpftes Plenum, dann im Abtausch mit
mehr Mitarbeitern, die Sacharbeit mit Tiefgang erst möglich machen.
Sonst bleiben die heimischen Parlamentarier das, was der Grüne
Alexander Van der Bellen in seiner schönen Abschiedsrede
ausgesprochen hat: Kirchenmäuse.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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