Man macht mit einem Land keine Rosskuren wegen der
Schönheit arithmetischer Reihenfolgen. Man macht sie, wenn sie nötig
sind. So wie bei Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ 1972, bei
Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ 1983 und bei Gerhard
Schröders Agenda 2010 vor genau zehn Jahren. Die Frage ist, ob schon
wieder so ein Kipppunkt erreicht ist. Die Antwort ist: Ja. Seit dem
Beschluss zur Rente mit 67 und der Föderalismusreform 2006 gibt es
einen nun schon sechs Jahre währenden Reformstillstand. Er ist
einerseits dem Zaudern der aktuellen Kanzlerin geschuldet, die
Schröders anschließende Wahlniederlage genau analysiert hat, aber
ebenso auch der Tatsache, dass diese sechs Jahre von übergeordneten
Finanzkrisen geprägt waren – in denen es Deutschland trotzdem relativ
gut ging. Aber bis spätestens zum Jahr 2016 wird der Reformstau so
groß geworden sein, dass er eine Anstrengung neuer Qualität
erfordert. Eine Agenda 2020 oder 2025. Denn ab 2016 ist die
Schuldenbremse voll wirksam und der Ausweg, Probleme der
Leistungsfähigkeit des Landes mit Geld zuzukleistern, ist dann
versperrt. Jetzt im Herbst wird jene Koalition gewählt, die den Mut
aufbringen muss, ein solches Programm zu beginnen. Auch das sollten
die Wähler bei ihrer Entscheidung wägen. Um drei Hauptthemen geht es.
Bei einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung muss Deutschland
mehr aus sich machen, um seine heutige starke Position im globalen
Wettbewerb halten zu können. Denn die anderen Nationen schlafen
nicht. Das setzt einen ganz anderen, offensiveren Umgang mit dem
Thema Bildung, mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und mit
der Zuwanderung voraus, als er heute vor allem in Teilen der Union
gepflegt wird. Auch die Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft muss
deutlich verbessert werden, denn einen derartigen Verschleiß an
Köpfen wie heute kann sich das Land künftig nicht mehr leisten. Das
zweite ist die Bewältigung der sozialen Lasten des demografischen
Wandels. Die Alterssicherung ist dank der Rente mit 67 einigermaßen
gewappnet; Kranken- und Pflegeversicherung sind es trotz derzeit
voller Kassen noch lange nicht. Wenn sich weiter so viele Menschen
wie heute der solidarischen Finanzierung entziehen, wird das System
mittelfristig nicht halten. Auch muss das System selbst deutlich
kostenbewusster, also wettbewerbsorientierter werden. Das dritte ist
die Weiterentwicklung und Modernisierung Europas. Deutschland ist
kaum größer und bevölkerter als eine der 22 Provinzen in China; bald
wird auch ökonomisch der Abstand geschrumpft sein. Deutschland kann
nur gemeinsam mit den anderen Europäern im globalen Wettbewerb
erfolgreich bleiben – und muss deshalb, so wie alle anderen,
nationales Denken auf- und nationale Souveränitäten abgeben. Dazu
gehört auch eine kluge Strategie für die europäische Peripherie, für
Nordafrika und besonders für die stark wachsende Türkei. Auch braucht
Europa eine gemeinsame Energiepolitik weg vom Öl, die bei der
Förderung erneuerbarer Energien mit nationalen Alleingängen aufhört.
Entweder wir modernisieren oder wir werden modernisiert, dieser Satz
galt nicht nur am 14. März 2003. Er gilt in einer dynamischen Welt
immer wieder neu.
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