Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Atomausstieg
Eine historische Chance
ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN

Es ist nichts Ehrenrühriges, wenn Politiker ihre
Ansicht ändern. Das geschieht andauernd. CDU und CSU haben kürzlich
erst eine grundsätzliche Wende bei der Wehrpflicht vollzogen – von
der Beibehaltung zur Aussetzung. Viel schlimmer wäre es, wenn
Politiker stur auf einmal gefassten Entscheidungen beharren würden.
Denn es ist die Wirklichkeit, die sich ändert. Und Politik, die die
Realität ignoriert, verkommt zur Ideologie. Dass Angela Merkel
angesichts der durch ein Seebeben ausgelösten Atomkatastrophe in
Japan zu einer neuen Bewertung des sogenannten Restrisikos bei der
Atomenergie kommt, ist richtig. Nukleare Sicherheit gibt es nicht.
Dass sich auch die Naturwissenschaftlerin Merkel jetzt endlich zu
dieser Erkenntnis durchringt, darf man ihr nicht zum Vorwurf machen.
Trotzdem haben die Bürger mit dem Sinneswandel der CDU-Chefin und
Kanzlerin Probleme. Zwei Drittel halten diese Kehrtwende für
unglaubwürdig und rein wahltaktisch motiviert. Warum ist das so?
Angela Merkel, die nun entschieden ihre Zweifel an der Atomenergie
äußert, hat erst kürzlich mit der gleichen Inbrunst die Verlängerung
der Laufzeiten durchgepeitscht. Auch für die jene Uralt-Atommeiler,
die nun sofort vom Netz genommen werden müssen. Wer aber heute etwas
verdammt, was gestern noch rigoros verteidigt werden musste, sollte
die Größe haben, seinen Irrtum oder Fehler einzugestehen. Doch auf
solch ein überzeugendes Bekenntnis von Angela Merkel wartet man bis
heute vergeblich. Außerdem steht die Abschaltung der sieben
Atommeiler rechtlich auf wackligem Boden. Das verstärkt den Eindruck
einer überhasteten Reaktion, die von Wahlterminen diktiert wird. Und
anstatt der Opposition, die nun mal in Sachen Atomenergie die
besseren Reflexe hatte, eine Zusammenarbeit anzubieten, wirft Merkel
Roten und Grünen Halbherzigkeit bei ihrem 2001 vollzogenen
Atomausstieg vor. Gewiss gibt es einiges, was sich an diesem
rot-grünen Atomausstieg kritisieren lässt. Offenbar wurden damals die
Sicherheitsstandards für die Restlaufzeiten zu lasch gehandhabt. Doch
es lässt sich trotzdem nicht bestreiten, dass Grüne und SPD bereits
gegen die Atomenergie gekämpft haben, als die Union und die FDP die
Kernkraftwerke noch als großen Fortschritt gepriesen haben. Die neue
Atomdebatte eignet sich nicht fürs Parteiengezänk. Denn der raschere
Ausstieg aus der Atomenergie ist zwar zu begrüßen, aber der dafür
notwendige Umbau in der Gesellschaft ist ungeheuer schwierig und
nicht zum Nulltarif zu haben. Hier wäre es ausnahmsweise wichtig,
dass die Politiker an einem Strang ziehen. Offenbar sind nun alle
Bundestagsparteien zum schnellen Ausstieg aus der Atomenergie bereit.
Diese historische Chance zum überparteilichen Konsens sollte nicht
ungenutzt vorüberziehen. Der Impuls dazu muss allerdings von der
Kanzlerin ausgehen. Vielleicht ist es ihr nach dem 27. März möglich,
auf die Opposition zuzugehen. Und eventuell auch eigene Fehler
einzugestehen.

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