Weser-Kurier: kommentiert in seiner Ausgabe vom 14. Januar 2011 das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Sicherungsverwahrung in Deutschland:

Bedingt menschenfreundlich

von Joerg Helge Wagner

Nein, mehr Klarheit und damit Rechtssicherheit haben sie nicht
geschaffen, die Richter am Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR). Müssen nun alle hochgefährlichen Gewalttäter,
die zwischen 2004 und Ende 2010 nachträglich in Sicherungsverwahrung
genommen wurden, freigelassen werden? Auch jene, bei denen die
Sicherungsverwahrung schon bei einem Urteil vor 1998 verhängt, dann
aber mehrfach über mehr als zehn Jahre hinaus verlängert wurde?
Laufen demnächst an die 100 mehrfach verurteilte Vergewaltiger,
Kinderschänder und Raubmörder auch ohne „günstige Sozialprognose“ wie
freie Bürger durch unsere Straßen? Wir wissen es immer noch nicht.
Denn nun muss der Bundesgerichtshof das letzte Wort sprechen. Dessen
Richter aber prüfen die Vereinbarkeit deutscher Rechtsprechung mit
dem Grundgesetz und nicht mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon
2004 keine Einwände gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Die
ist zwar 2009 nach einem Urteil des EGMR abgeschafft worden, aber das
ersatzweise geschaffene Therapieunterbringungsgesetz wird wohl
Bestand haben: Es setzt voraus, dass zwei Gutachter dem Verurteilten
eine psychische Störung attestieren, die ihn für die Allgemeinheit
gefährlich macht. Als Nicht-Jurist kann man das als lebensnahe
Maßnahme zum Schutz der Zivilgesellschaft begrüßen. Denn genau dieser
Schutz steht ja bei der Sicherungsverwahrung im Vordergrund: Es geht
eben nicht darum, die Strafe für ein oder mehrere Gewaltverbrechen zu
verschärfen. Deshalb darf man sich als Nicht-Jurist auch fragen,
warum die nachträgliche Verhängung einer solchen Schutzmaßnahme die
Menschenrechte des Täters verletzt. Die Straßburger Richter führen
hier das Rückwirkungsverbot an: Freiheitsentzug könne nicht nach
einem Gesetz verlängert werden, das zum Zeitpunkt des ersten Urteils
noch nicht in Kraft war. Im Kern führt das auf den römischen
Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege“ zurück: keine Strafe ohne
Gesetz – zweifellos eine tragende Säule unseres Rechtsstaates,
verankert in Artikel 103 des Grundgesetzes. Doch erstens geht es bei
der Sicherungsverwahrung gar nicht um Strafe – siehe oben – und
zweitens setzt eine so rigorose Auslegung des Rückwirkungsverbots bei
den Strafrichtern geradezu prophetische Gaben voraus: Sie müssen im
Zweifelsfall erahnen, dass ein mehrfach einschlägig vorbestrafter
Kinderschänder in der Haft nicht zum Psychopathen wird. Das ist alles
andere als lebensnah. Es könnte zudem dazu führen, dass die
Sicherungsverwahrung in Deutschland künftig weitaus häufiger verhängt
wird als unbedingt nötig, zumal die Strafen für Gewaltverbrechen in
Deutschland eher niedrig sind. Das ginge jedoch zu Lasten einer
eigentlich zunächst anzustrebenden Resozialisierung. Das sollten jene
Anwälte bedenken, die nun vorschnell das Urteil des EGMR bejubeln. Es
sollte auch linksliberale Leitartikler nachdenklich machen, die dem
neuen Therapiegesetz flugs die Rechtsstaatlichkeit absprachen, weil
es „Menschen für krank erklärt, um sie hinter Gittern halten zu
können“. Bei so viel Polemik liegt der wahre Grund wohl eher darin,
dass das Gesetz die „falschen“ Autoren hat, nämlich eine
konservativ-liberale Regierung. Dann sei daran erinnert, dass die
nachträgliche Sicherungsverwahrung ein Erbe von Rot-Grün ist: Damals
hieß die Justizministerin Brigitte Zypries, Innenminister war der
frühere Strafverteidiger Otto Schily.
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