Es kann gut sein, dass Angela Merkel Sympathien und
Wählerstimmen zufliegen, wenn sie den Hochwasseropfern und den
Helfern in Bayern, in Sachsen und Thüringen Zeit und Aufmerksamkeit
schenkt. Wenn sie unbürokratische Hilfe verspricht, Hände schüttelt
und Sandsäcke schleppt. Die Flut kommt ihr – selbstredend ungewollt –
zupass, ihre Imageberater werden vermutlich vor Freude gejuchzt
haben: Frau Merkel geizt gewöhnlich mit Charme und Humor. Was man
gemeinhin Menscheln nennt, ist nicht ihre Stärke, wenngleich auch
nicht ihr erklärtes Ziel. Aber in Passau, Pirna und Greiz ist sie
ganz Mutter der Nation. Natürlich hat sich die Kanzlerin jede Geste
und Bemerkung haargenau überlegt. Sie hat sich inszeniert, vielleicht
nicht ganz so platt, wie man es einem Sigmar Gabriel oder David
McAllister oder Guido Westerwelle zutrauen könnte – eben nicht in
Gummistiefeln und mit Nordwester. Aber man kann sich sicher sein,
dass die Kanzlerin jedes Objektiv jederzeit auf sich gerichtet
wusste. Das heißt nicht, dass es ihr an aufrichtiger Anteilnahme
fehlt – es wirft nur ein Licht auf die Macht politischer
Inszenierungen. Denn Katastrophenalarm ließe sich so gut wie jeden
Tag an dem einen oder anderen Ort ausrufen. Nämlich überall da, wo
Menschen im übertragenen Sinne das Wasser bis zum Hals steht, wo die
Not groß und die Chancen auf ein anderes Leben klein sind. Wenn sich
ein Regierungsmitglied oder ein Kandidat in Berlin-Wedding oder
-Neukölln einen eigenen Eindruck verschaffte, ohne Kameras vielleicht
und ohne Wahltermin, sagten sie dann auch schnelle und
unbürokratische Hilfe zu? So wie gestern Angela Merkel: „Wir haben
für so viele Dinge Geld, ich denke, gerade in dieser Notsituation
werden wir auch Mittel und Wege finden, um den Menschen zu helfen.“
Leid lässt sich nicht an Leid messen, sicher. Die Opfer der Flut
haben jede Hilfe und Zuspruch verdient. Doch man darf fromm wünschen,
dass sich der Blick, wenn die Häuser und die Tränen getrocknet sind,
auch dahin richtet, wo das Elend zu Hause ist, jeden Tag.
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