Westdeutsche Zeitung: Verfassungsgerichtsurteil = von Martin Vogler

Ganz Europa blickte nach Karlsruhe – und wendet
sich wieder ab. Denn das Bundesverfassungsgericht hat so entschieden,
wie es Finanzwelt und Politik erwarteten. Der Dax steigt. Die Richter
haben sich, korrekt wie sie sind, ausschließlich von juristischen
Überlegungen leiten lassen. Sie blieben unbeeindruckt davon, dass
allein hinter einer der Beschwerden 37 000 Bürger stehen. Diese Zahl
legt nahe, dass Millionen Deutsche von Euro-Rettung und Fiskalpakt
wenig halten und sich viele sogar die alte Mark zurückwünschen.

Nach dieser Entscheidung wird sich Europa noch aus anderen Gründen
von dem deutschen Sonderfall Verfassungsgericht abwenden. Die
Karlsruher, die in den vergangenen Jahren erstaunlich viel Einfluss
auf die deutsche Tagespolitik gewannen, haben mit ihrem gestrigen
Ja-Aber-Spruch viel Hilflosigkeit gezeigt. Das Gericht lässt nämlich
die Entwicklung in Europa ungehemmt weiterlaufen und unternahm nicht
mal den Versuch, sie zu stoppen. Es machte lediglich zwei
Einschränkungen. Doch die haben nur Alibi-Funktionen.

Wenn die Richter die Rolle der nationalen Parlamente stärken
wollen, ist das ehrenwert. Die Erfahrungen in der Praxis werden
jedoch anders sein. Gleiches gilt für die zweite Einschränkung. Der
fromme Wunsch, die deutsche Haftungssumme zu deckeln, wird sich im
Ernstfall nicht erfüllen. Mit Sicherheit wäre Deutschland dann mit
deutlich mehr als den 190 Milliarden Euro dabei.

Es wird sehr deutlich, wie rasch der Spielraum der Nationalstaaten
sinkt. Deren Einfluss scheint immer weniger in der Gestaltung durch
die Parlamente zu liegen, sondern nur noch darin, dass sie dank
Richtersprüchen die Notbremse ziehen. Und Letzteres hat gestern nicht
mal funktioniert. Der Weg zur grenzenlosen europäischen Transferunion
ist jetzt endgültig frei. Weder die Parlamente noch ein Gericht im
Südwesten Deutschlands – das ist spätestens seit gestern klar –
werden diese für uns alle teure Entwicklung aufhalten.

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