Es sind Bilder wie aus einem Bürgerkrieg:
Jugendliche randalieren, Straßenzüge brennen, Fußballspiele werden
abgesagt, und die Presse spricht von einer neuen »Schlacht um
England«. Die Plünderungen und Krawalle von London, Birmingham und
Liverpool erschüttern das Land und enthüllen die vielen sozialen und
wirtschaftlichen Probleme. Doch der britische Premierminister Cameron
verdrängt die Hintergründe der Krise, fordert mehr Polizisten, nennt
die Randalierer »Kriminelle« und verspricht harte Strafen. Eine
kreative Sozialpolitik ist nicht in Sicht. Diese Taktik erinnert
fatal an die Reaktion auf die Straßenschlachten in Paris, als
Jugendbanden Autos anzündeten und Behörden angriffen. Der damalige
Innenminister Nicolas Sarkozy beschimpfte die Jugendlichen als
»Gesindel« und »Abschaum« und verdrängte die sozialen und ethnischen
Ursachen der Krawalle. Cameron sollte diesen Fehler nicht
wiederholen. Denn Großbritannien hat in der Tat Probleme: Die soziale
Schere zwischen Arm und Reich wird größer, die Jugendarbeitslosigkeit
grassiert, die Schuldenkrise erfordert Kürzungen im Sozialhaushalt,
die Konjunktur lahmt, und der jüngste Börsenkrach nährt die Angst vor
dem wirtschaftlichen Abstieg. Großbritannien ist immer noch eine
Klassengesellschaft mit großen sozialen Gegensätzen: Allein im
vergangenen Jahr ist das Gesamtvermögen der reichsten 1000 Briten um
30 Prozent auf 330 Milliarden Pfund gestiegen. Die Ungleichheiten bei
Löhnen, Vermögen und Lebenserwartungen sind größer denn je.
Selbstverständlich sind die Randalierer Kriminelle, und sicher müssen
sie bestraft werden; doch ebenso wichtig ist, das soziale und
wirtschaftliche Elend der Jugendlichen zu verstehen und darauf zu
reagieren. Wenn Politiker den Staat leichtfertig verschulden und dann
die Sozialausgaben kürzen, versündigen sie sich an der Zukunft der
Jugend. Denn eine Gesellschaft ist nur so stark und gesund wie ihre
schwächsten Mitglieder. Wer Jugendarbeitslosigkeit und Jugendarmut
ignoriert, setzt das Schicksal der Nation aufs Spiel. Das gilt für
Großbritannien ebenso wie für Griechenland, Spanien, Frankreich,
Italien oder Deutschland. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine
Zeitbombe, die Wohlstand und Stabilität vieler europäischer Staaten
bedroht. Das Gespenst von Jugendarmut und Jugendarbeitslosigkeit
sollte jeden europäischen Politiker zwingen, eine starke und
vernünftige Sozialpolitik zu verfolgen. Doch jetzt ist zunächst
Premierminister Cameron gefordert: Er muss eine tragbare
Sozialpolitik entwerfen, denn mit mehr Polizisten allein ist es nicht
getan. Die Jugend braucht Bildung, Ausbildung, Arbeitsplätze,
Zukunftsperspektiven und gesellschaftliche Akzeptanz. Ohne starke
politische Führung droht die Gesellschaft auseinanderzufallen. Dann
gäbe es in Großbritannien den Dauerkrawall.
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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