Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Merkels Wutrede

Die Bundeskanzlerin warnt vor einem Flächenbrand
in Europa, wenn das russische Hegemonialstreben nicht aufhört. Sie
signalisiert Wladimir Putin, dass ihre Geduld erschöpft ist.

Soviel Klartext ist bei Angela Merkel selten, so deutliche Wut und
wohl auch Enttäuschung über den Russen auch. Weder ihr dreieinhalb
Stunden langes Vier-Augen-Gespräch in Australien noch die 40
Telefonate und vielen direkten Kontakte mit Putin seit der
Krim-Annexion haben Fortschritte gebracht. Er bleibt stur auf
Aggressions- und Expansionskurs. Dabei kennt kein europäischer
Staats- oder Regierungschef den russischen Präsidenten besser.

Deshalb muss sich Merkel mehr als andere von dessen
Unbelehrbarkeit verletzt und auch für dumm verkauft vorkommen. Das
dürfte ein weiterer Grund für die klaren Worte vom anderen Ende der
Welt sein. Noch ist die historische Dimension der Sydney-Rede nicht
abschätzbar, aber vieles erinnert an George F. Kennan 1947. Der
damalige US-Diplomat kabelte eineinhalb Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs nach Washington, dass sich der bisherige
Verbündete wieder gegen die westliche Welt stelle. Die Politik der
UdSSR wurzele in einer historischen Paranoia, demokratische
Strukturen seien Moskau zuwider, ließ Kennan wissen. Monate später
erschien das streng geheime 8000 Worte zählende Telegramm in »Foreign
Affairs« angeblich aus der Feder eines anonymen »Mister X«. Die
Veröffentlichung des Textes gilt als Urstunde des Kalten Krieges.
Merkel spricht dagegen mit weit offenem Visier. Sie rät im Gegensatz
zu Kennan auch nicht zur Eindämmung der russischen Aggression. Das
könnte daran liegen, dass damals schon das Originalwort »Containment«
als Aufforderung zu militärischem Vorgehen bewusst und gern falsch
verstanden wurde.

Kein westlicher Staatschef hat bislang Putin so deutlich die
Leviten gelesen und sein Ego so direkt attackiert. Nie zuvor hatte
Merkel die Einflussversuche Russlands auf viele Schwarzmeeranlieger
und den westlichen Balkan so sehr öffentlich gegeißelt. Deshalb
markiert ihre Sydney-Rede einen Wendepunkt in der Wahrnehmung der
russichen Föderation in der Welt.

Deutschland fällt die Führungsrolle im Umgang mit Russland zu.
Deshalb wird Merkel auch nicht der Frage ausweichen können, zu
welchem Umgang mit Russlands Expansionsgelüsten sie denn rät.

Militärische Schachzüge kommen für Deutschland und dessen
Verbündete nicht infrage. Still zuschauen ist aber auch keine Lösung,
noch nicht einmal Diplomatie. Die Wirtschaftssanktionen sind
ausgereizt und bei aller Isolierung Putins muss eine Tür zur
Verständigung offen bleiben.

Hier hat Merkel, genauso wenig wie George Kennan 1947 eine Lösung
anzubieten, außer dem Rat zu noch mehr Geduld. Das ist und bleibt
unbefriedigend.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261