Einen Stammplatz im Arsenal unserer
Alltagsweisheiten hat die Feststellung, dass vieles, was in den USA
geschehe, wenig später zu uns schwappe – ob Aerobic-Welle oder
Madonna, TV-Shopping oder Schnell-Restaurant. Spannend wird die
Frage, ob dieser Nachmacher-Effekt auch für den Stil des politischen
Umgangs gilt. Beschleunigt durch die Eruptionen der Finanzkrise
erleben die USA eine gesellschaftlich-politische Polarisierung, die
Beobachter mit einem Bürgerkrieg vergleichen. Der große Versöhner
Obama hat nicht verhindern können, dass sich Konservative und
Liberale mit ihren Leitfiguren, Medien und Parolen wie Armeen
gegenüber stehen. Ob Kriege, Gesundheit, Klima, Steuern – die
verfeindeten Lager können sich kaum mehr auf eine Faktenbasis
einigen, weil jeder den anderen der Falschspielerei bezichtigt.
Verschwunden ist der Lösungswille als Minimalkonsens jeden
Miteinanders. Man schreit sich an. Auch Deutschland erlebt diese Art
der fundamentalistischen Debatte, etwa beim Sarrazin-Buch.
Verfeindete Lager beharren auf unversöhnlichen Standpunkten, die
Suche nach Gemeinsamem wird als Niederlage bewertet, es wird
geschrien oder geschwiegen. Lösungen? Keine. Themen wie Klima und
Energie, Gesundheit oder Westerwelle werden in Deutschland zunehmend
polarisiert geführt: Es geht weniger um einen Ausweg, der die
Interessen aller Beteiligten berücksichtigt, sondern um ein binäres
Ja/Nein. Nicht die Lösung zählt, sondern allein Sieg und Niederlage –
derzeit in der FDP zu verfolgen. So hat Guido Westerwelle kaum eine
Chance, sich freiwillig auf den Posten des Außenministers zu
konzentrieren – sein Abschied vom Parteivorsitz würde nicht als
Triumph der Vernunft, sondern als Niederlage ausgelegt. Wo kurzatmig
polarisiert wird, gerät oft der Horizont außer Sicht. Das neue Jahr
mit sieben Wahlen ist geeignet, die Amerikanisierung der hiesigen
Debattenkultur zu beschleunigen. Dass das Land anders kann, hat der
Umgang mit der Krise gezeigt, die die Kanzlerin etwas leichtfertig
für beendet erklärt hat. Vor lauter Freude über die bewältigte
ökonomische Delle ging nahezu unter, wem diese Leistung zu verdanken
ist. Das Instrument Kurzarbeit wirkte, weil sich Staat, Unternehmen
und Arbeitnehmer zu einem Gemeinschaftswerk zusammenfanden. Firmen
sahen von massenhaften Kündigungen ab, der Staat übernahm einen Teil
der Kosten, Millionen Menschen verzichteten vorübergehend auf Teile
ihres Einkommens. Auf ein Problem wurde nicht mit Schuldzuweisungen
reagiert – wie in der Causa Sarrazin – sondern mit gemeinsamen Werten
wie Verlässlichkeit, Loyalität, Teamgeist, die in keiner Bilanz
auftauchen, aber zur überraschend schnell wieder gefragten
Leistungsfähigkeit im Boomjahr 2010 sicher beitrugen. Die gute
Nachricht: Es gibt spezifisch deutsche Lösungswege jenseits plumpen
Polarisierens. Die weniger gute Nachricht: Auf Gemeinsames besinnt
sich die Mehrheit erst dann, wenn die Angst größer ist als die Lust
an der Rechthaberei.
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