BERLINER MORGENPOST: Abgeordnete sind kein Stimmvieh – Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Die alte Weisheit, dass ein rechtzeitiger Blick ins
Grundgesetz viel Ärger erspart, hat sich einmal mehr bestätigt. Im
Artikel 38, gleich im ersten Absatz, ist nachzulesen, dass
Abgeordnete des Bundestags „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden
und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Man kann nur ungläubig mit
dem Kopf schütteln, dass der Geschäftsordnungsausschuss des
Parlaments parteiübergreifend dennoch die Beschneidung des Rederechts
von vermeintlich unbequemen Volksvertretern empfohlen hat. Der
Protest bis hin zur Drohung mit dem Verfassungsgericht ließ denn auch
nicht lange auf sich warten. Er hat die einzig richtige Wirkung
gezeitigt: Ab mit der Vorlage in den Papierkorb. Bei ein bisschen
mehr Nachdenken und Sensibilität hätten sich die Experten von Union,
FDP und SPD für den reibungslosen Ablauf der parlamentarischen Arbeit
im Bundestag diese Blamage ersparen können. Natürlich muss der
Debattenablauf in einem Parlament mit fünf Fraktionen und 622
Abgeordneten strukturiert und organisiert werden. Ein zentraler Punkt
dabei ist die Verteilung der Redezeit auf die einzelnen Fraktionen,
deren Führungen danach intern ihre Rednerliste bestimmen. Das
funktioniert solange problemlos, wie es in den einzelnen Fraktionen
keine „Dissidenten“ gibt. Denn alle Parteien legen größten Wert
darauf, dass ihre Abgeordneten einheitlich abstimmen, um
Geschlossenheit und damit Stärke zu demonstrieren. Was aber tun, wenn
Widerspruch da ist? Wenn der eine oder andere oder gleich gar mehrere
Abgeordnete der Fraktionslinie nicht folgen, sich dem sogenannten
Fraktionszwang verweigern und darauf bestehen, außerhalb der Redezeit
zu sprechen, die ihrer Fraktion zugeteilt wurde. Dass jüngst bei der
Entscheidung über die Euro-Rettung gleich zwei Kritikern aus dem
Koalitionslager vom Bundestagspräsidenten erlaubt wurde, wider die
Regierungsposition zum Rettungsschirm zu reden, hat die
Fraktionsführungen der Union, der Liberalen und auch der
Sozialdemokraten auf die Palme gebracht. Verärgert vereinbarten sie
eine Neuregelung des Rederechts. Aus der Sorge, dass – wenn jeder
reden darf, wann er will – ein geordneter Ablauf der Plenardebatten
gefährdet wird. Und der befürchteten Folge, der Bundestag verkomme
wie weiland der Weimarer Reichstag zu einer vom Volk verachteten
„Quasselbude“. Solche Bedenken sind nicht völlig unbegründet. Zumal
sich die Parteienlandschaft weiter aufsplittert und damit potenziell
auch die Fraktionen im Bundestag. Aber das rechtfertigt keinen
Maulkorb für unbequeme Abgeordnete. Im Gegenteil. Die weitgehend in
Ritualen erstarrten und perfekt durchorganisierten
Parlamentssitzungen ersticken mehr und mehr in Langeweile. Die
wichtigen politischen Debatten samt ihrer Widersprüche dürfen nicht
länger in den TV-Talkshows ausgetragen werden. Sie gehören, wie es
Bundestagspräsident Norbert Lammert zu Recht anmahnt, in den
Bundestag. Dafür aber müssen seine Debatten wieder spannender, auch
überraschender werden. Mit Maulkörben wird das nicht gelingen. Vor
einem zweiten Versuch, die Widerspenstigen zu zähmen, sei den
Fraktionsdompteuren deshalb dieser dringliche Rat empfohlen: Blickt
mal wieder ins Grundgesetz.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de