BERLINER MORGENPOST: Die Berliner haben den Blick für Realitäten – Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Was Mitte der Neunzigerjahre mit Pleiten, Pech und
Pannen begann, findet am 3. Juni ein glückliches Ende, wenn das erste
Flugzeug vom neuen Berliner Großflughafen Willy Brandt abhebt. Nicht
allein Flughafenmanagement und Fluggesellschaften blicken voller
Optimismus dem Beginn der neuen Luftfahrtära in Berlin-Brandenburg
entgegen. Dass auch die meisten Berliner mit dem Airport positive
Erwartungen verbinden, stimmt zuversichtlich. Das Ergebnis des neuen
Berlin Trends ist zumindest aus zwei Gründen zu begrüßen. Das klare
Bekenntnis zum BER sollte endgültig zur Befriedung rund um die
Milliardeninvestition zur Zukunftssicherung der wirtschaftlichen
Entwicklung der Region führen. So verständlich der Ärger vom Fluglärm
besonders betroffener Anwohner auch sein mag – individuelle
Betroffenheit darf nicht gefährden, was dem Ganzen nützt. Dafür haben
sich die Berliner, die um die Bedeutung des Luftverkehrs in der
Geschichte ihrer Stadt wissen, ein feines Gespür bewahrt. Auch dafür,
dass durch die Schließung von Tegel im Norden der Stadt sehr viel
mehr Menschen künftig ruhiger und sicherer leben können, als im Süden
belästigt werden. Das alles spricht für den Realitätssinn der großen
Mehrheit der Berliner. Der beweist – zweitens – noch etwas anderes.
Er straft die Behauptung Lügen, dass Großprojekte in Deutschland kaum
noch eine Chance haben. Weil sie von „Wutbürgern“ wie weiland beim
Projekt Stuttgart 21 mit allen legalen und vielen illegalen Mitteln
torpediert würden. „Schönefeld neu“ ist der Gegenbeweis. Die
gegenüber der ursprünglichen Planung eingetretene zweijährige
Verzögerung bei der Fertigstellung ist im Vergleich zu anderen
Großprojekten in der Republik fast noch als pünktlich zu werten.
Denkt man an die eine oder andere Dauerbaustelle in der Berliner
Innenstadt, gilt das allemal. Protest und Ablehnung der Berliner wie
auch der Brandenburger gegenüber dem neuen Großflughafen hielten sich
von Anfang an in Grenzen, weil seine Notwendigkeit letztlich von
niemand Ernstzunehmendem infrage gestellt wurde. Gibt es überzeugende
Argumente, kann sehr wohl auch in Deutschland noch ohne Massenprotest
gebaut werden. Tegel ist zu klein und auf Dauer mit den An- und
Abflügen über dicht bebaute Wohngebiete zudem zu riskant geworden.
Überzeugend auch die Argumentation, dass Berlin einen Großflughafen
braucht, um schnelleren Anschluss zu anderen Kontinenten zu finden.
Diese globale Vernetzung wiederum sei Voraussetzung für weiteres
wirtschaftliches Wachstum. Und schließlich der neue Flughafen nach
den Vorbildern Frankfurt/Main und München als Jobmaschine. Den
Berlinern scheint es ohnehin am Hang zum „Wutbürger“ zu mangeln. Sie
meckern, behalten aber letztlich die Fassung. Der Ausbau der Autobahn
100 ist kein Stadtaufreger, das S-Bahn-Desaster kein Grund zum
Massenaufstand. Es ist schon ein bisschen erstaunlich, wie ruhig und
gelassen die Berliner seit nunmehr zwei Jahrzehnten in ihrer großen
Buddelkiste leben. Zu Wutbürgern werden sie wohl selbst dann nicht,
wenn Hertha – was Köln verhindern möge – absteigt.

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