Der Rechtsstaat ist ein hohes Gut. Er schützt die
Bürger vor Willkür, urteilt über Straftäter und schlichtet Streit. Er
ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Doch die, die Recht
sprechen, sind auch nur Menschen. Und damit fehlbar. Auch
überfordert, es immer allen recht zu machen – dem Kläger, dem
Beklagten und der öffentlichen Meinung. Das Gefühl, das Recht und
Gerechtigkeit nicht immer eins sind, findet seinen Grund darin, dass
das deutsche Strafrecht samt seiner Begleitgesetze für Nichtjuristen
weitgehend ein Buch mit sieben Siegeln ist. Gestern ist wieder so ein
Urteil gefällt worden, das zum Kopfschütteln Anlass gibt. Weil sie
zu Unrecht jahrelang in Sicherungsverwahrung inhaftiert waren, hat
das Karlsruher Landgericht vier Gewalt- und Sexualstraftätern eine
Entschädigung pro Person zwischen 49.000 und 73.000 Euro
zugesprochen. Nicht, weil nachträglich ihre Unschuld bewiesen worden
wäre. Im Gegenteil. Die vier Männer galten auch nach Verbüßung der
regulären Strafe weiter als extrem gefährlich und saßen deshalb
weiter in Sicherungsverwahrung. Sie ist das schärfste Mittel im
Strafvollzug gegen potenzielle Wiederholungstäter und dient dem
Schutz der Bürger. Weil aber erst der Europäische Gerichtshof und
dann das Bundesverfassungsgericht die Regeln für Sicherungsverwahrung
gekippt haben, können die inzwischen entlassenen, älteren Männer an
ihrem Lebensabend auf das hübsche Sümmchen hoffen. Ob sie die 500
Euro für jeden als rechtswidrig eingestuften Haftmonat wirklich
verdient haben, daran müssen Zweifel erlaubt sein. Vor allem dann,
wenn man diese Entschädigung mit der vergleicht, die an Opfer gezahlt
wird, die unschuldig im Gefängnis gesessen haben. Im Falle des
Justizirrtums bekommt der von einer staatlichen Instanz seiner
Freiheit Beraubte gerade mal 250 Euro mehr, nämlich 750 Euro je
Haftmonat. Ist das gerecht? Und anders als rechtskräftig Verurteilte
erhalten Justizopfer keine Hilfen zur Wiedereingliederung in die
Gesellschaft. Das kann auch nicht gerecht sein. Da die
Haftentschädigung für unzulässige Sicherungsverwahrung von
grundsätzlicher Bedeutung ist, wird der Fall wohl vor dem
Bundesgerichtshof landen. Das zumindest stimmt nach dem höchst
strittigen gestrigen Urteil zuversichtlich. Noch unglaublicher
angesichts des Karlsruher Richterspruchs ist die Erfahrung, die
jüngst eine Berlinerin machen musste. Nicht nur, dass sie nach einem
Fehlurteil wegen angeblichen Vatermordes unschuldig in Haft saß.
Zusammen mit dem nachträglichen Freispruch beschloss das
Kammergericht, die Frau habe das Gutachten, mit dem sie ihre Freiheit
zurück gewann, mitzubezahlen. Das ist nicht nur ungerecht. Das ist
zynisch. Es wird höchste Zeit, dass sowohl die Voraussetzungen für
die Sicherungsverwahrung wie für die Entschädigung von Opfern der
deutschen Justiz reformiert werden. Zu Erstem hat das
Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung binnen zwei Jahren
aufgefordert, von denen eines bereits folgenlos verstrichen ist. An
das Zweite wagt sich der Gesetzgeber bislang nicht heran.
Offensichtlich, weil es sehr teuer werden könnte. Das allerdings ist
eines Rechtsstaats unwürdig.
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