HAMBURGER ABENDBLATT: Inlandspresse, Hamburger Abendblatt zu Maulkorb für Abgeordnete

Ein Kommentar von Karl Günther Barth

Wenn es um ihre Macht geht, reagieren Politiker manchmal so
dickfällig, dass es für ihr Verhalten fast nur noch die berühmte
Metapher vom Elefanten im Porzellanladen gibt. Genau dies ist, mal
wieder, im Deutschen Bundestag zu besichtigen. In verhängnisvoller
Eintracht haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP im
sogenannten Geschäftsordnungsausschluss eine Beschlussvorlage
durchgewinkt, mit der es dem zuweilen aufmüpfigen
Parlamentspräsidenten Norbert Lammert vordergründig besonders schwer
gemacht werden soll, Abgeordnete zu Wort kommen zu lassen, die eine
von ihrer Fraktion abweichende Meinung vertreten. Tatsächlich ist das
ein Stück aus dem politischen Tollhaus, nichts weniger als der
handfeste Versuch eines Maulkorberlasses für frei gewählte
Volksvertreter, die laut Verfassung nur ihrem Gewissen verantwortlich
sein sollen – wobei die Fraktionen, nebenbei bemerkt, im Grundgesetz
überhaupt nicht vorkommen. Wer so dreist Hand an die Meinungs- und
Redefreiheit im Bundestag legt, muss sich nicht wundern, wenn er
damit Misstrauen beim Bürger sät und Politikverdrossenheit schürt.
Wer so dreist das offene Wort scheut, muss sich auch nicht wundern,
wenn das böse Wort von der Hinterzimmerpolitik wieder die Runde
macht. Wer so dreist die Rechte des Parlaments beschneiden will,
beweist nachdrücklich, dass er wichtige gesellschaftliche
Entwicklungen, etwa dem Wunsch nach mehr Transparenz in der Politik,
schlichtweg verpennt hat. Die SPD hat bitter erkennen müssen, dass
Regieren nach der Basta-Methode beim Bürger gar nicht ankommt. Die
Union, die davon nicht schlecht profitiert hat, scheint das aber
trotzdem nicht kapiert zu haben. Es ist kein Zufall, dass der
Geschäftsordnungsvorstoß nur wenige Wochen nach der Debatte um
Eurorettung und Rettungsschirme gestartet wurde. Da hatte Lammert,
sehr zum Verdruss der Regierung, den Euro-Rebellen Klaus-Peter
Willsch (CDU) und Frank Schäffler (FDP) die Gelegenheit gegeben, vor
dem Parlament ihre abweichende Meinung zu begründen. Lammert wollte
damit nur erreichen, dass sich die quer durch die deutsche
Bevölkerung gehende Debatte auch im Bundestag widerspiegelt. Nun ist
das, was der Bundestag in knapp zwei Wochen beschließen soll, noch
kein Anschlag auf die Demokratie, wie der ein oder andere Kritiker
jetzt vorschnell mutmaßt. So viel Bosheit wollen wir den Fraktionen
gar nicht zutrauen. Ihnen geht es offenbar darum, die
Abstimmungsmaschinerien gut geölt am Laufen zu halten. Aber genau
diese Politikmethode hat dazu geführt, dass etwa Wutbürger in
Stuttgart monatelang gegen den Bahnhofsneubau protestiert hatten.
Informationen zu dem umstrittenen Projekt waren zu wenig öffentlich
gewesen, Entscheidungsprozesse für die Öffentlichkeit nicht genügend
transparent geworden. Die Politiker hatten die Urteilsfähigkeit des
Bürgers offenbar unterschätzt, wie die spätere Volksabstimmung
bewies. Ratlos stehen gerade die großen Parteien dem Phänomen der
scheinbar unaufhaltsam wachsenden Piratenpartei gegenüber, zu deren
wenigen klaren Zielen die Transparenz von politischem Handeln zählt.
Wer aber per Geschäftsordnungstrickserei abweichende Meinungen zum
Schweigen bringen will, braucht gar nicht erst Geld für teure
Untersuchungen auszugeben, um dem Erfolg der Piraten auf die Spur zu
kommen. Gerade die großen Parteien, die von sich selbst noch immer
behaupten, sie seien Volksparteien, sollten sich genau überlegen, wie
sie das Volk von ihrem Regierungshandeln überzeugen können. Mehr
Offenheit gehört auf jeden Fall dazu.

Pressekontakt:
HAMBURGER ABENDBLATT
Ressortleiter Meinung
Dr. Christoph Rind
Telefon: +49 40 347 234 57
Fax: +49 40 347 261 10
christoph.rind@abendblatt.de meinung@abendblatt.de