Ein Kommentar von Christoph Rind
Die Nerven liegen blank. Bei den Bürgern, deren Glaube an Europa
Risse hat, weil ihnen ständig neue unvorstellbare, verwirrende Summen
über Rettungs-Milliarden präsentiert werden und das angeblich
alternativlos; bei der Regierung, die trotz satter Parlamentsmehrheit
wochenlang an der Zustimmung der eigenen Mandatsträger zweifeln muss;
und bei den Abgeordneten, die ebenso wenig wie Kanzlerin,
Finanzminister oder alle Experten sicher sein können, ob die
beschlossenen Rettungsschirme dem nächsten Sturm der Finanzmärkte
standhalten oder ob alles doch noch schlimmer wird. Dass ein
Polit-Profi wie Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in einer solch
bedrückenden Situation die Nerven verliert und seinen
CDU-Parteifreund Wolfgang Bosbach hart angeht, weil dieser sich mehr
seinem Gewissen und der eigenen Logik verpflichtet fühlt als der
Abstimmungsdisziplin in der Fraktion, ist menschlich verständlich.
Aber der Ton macht die Musik. Pofalla hat kräftig danebenintoniert
(„Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“ und „Du machst mit deiner
Scheiße alle Leute verrückt“). Diese Entgleisung ist nicht mit einem
„Sorry“ aus der Welt zu schaffen. Dass Bosbach als der Angegriffene
den Streit inzwischen für erledigt erklärt, zeigt, wer in diesem Fall
Größe beweist. Also jetzt schnell zur Tagesordnung übergehen? Nein,
so einfach ist das nicht. Der Ausrutscher ist symptomatisch für den
Zustand der Regierung unter Führung von Angela Merkel, die ihre
gefährlichsten Gegner immer häufiger in den eigenen Reihen hat. Da
sind die durch Wahlniederlagen enttäuschten Parteigänger, die eine
Mitschuld an den Stimmenverlusten der letzten Monate ihrer Spitze
zuschieben, also der Kanzlerin höchstpersönlich. Und da sind
Aufrechte wie Wolfgang Bosbach, die mit ihrem Vorbehalt gegen die
Euro-Rettungsbeschlüsse und ihre Wirksamkeit nur einen Bruchteil der
zweiflerischen Stimmung widerspiegeln, die im Wahlvolk verbreitet
ist. Nun setzt sich die Regierung, die auch gegen eigene Zweifel mit
den europäischen Partnern Handlungsfähigkeit zeigen muss, aus guten
Gründen über allerlei Bedenken hinweg. Das aber ist kein Grund, die
zu schmähen, die – ebenfalls begründet – nicht jedes Detail mittragen
beim großen Ziel, Europa und seine Einheitswährung zu erhalten.
Welche Sprengkraft in dem Pofalla-Bosbach-Gefecht schlummert, wenn
die Wunden nicht schnell versorgt werden, belegt die beachtliche
Phalanx der Unionspolitiker, die zwar – anders als Bosbach – die
Merkel-Vorschläge unterstützen, dennoch aber dem übel Beschimpften
mit besänftigenden Worten beispringen: Bundestagspräsident Norbert
Lammert nennt den Gescholtenen „einen der angesehensten Kollegen der
Fraktion“. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen fordert für
diese „bis an die Existenz gehenden Debatten“ über die Zukunft
Europas eine „schonungslose und offene“ Diskussion. Und Horst
Seehofer, sonst selbst erprobter Abweichler vom Unions-Mainstream,
lobt die „sehr fundierte Argumentation“ Bosbachs, der bestimmt „kein
Querulant“ sei. Das Ziel dieser Treueschwüre für den erfahrenen
Abgeordneten aus dem Rheinland ist klar. Alle wollen verhindern, dass
Bosbach seine Drohung, sich aus der Politik zurückzuziehen, wahr
macht, nicht nur weil er sich momentan gemobbt sieht, sondern
vielleicht auf Dauer isoliert fühlen könnte. Bei allem Ärger über
peinliche Entgleisungen kann die vielfach geschwächte
Regierungs-Union eines nicht gebrauchen: dass ihr diejenigen
weglaufen, die den besten und direktesten Draht zu denen halten,
denen sie ihr Mandat verdanken: den Bürgern. Die müssen sich von
Pofalla gleich mitbeschimpft fühlen.
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