Landeszeitung Lüneburg: „Wirksamer als ein Boykott“ / Amnesty International fordert beharrliches Eintreten für Menschenrechte in der Ukraine auch nach der EM

Darf man Fußballern in einem Land zujubeln, in
dem politische Gefangene unter schlimmsten Bedingungen festgehalten
werden? Europas Politiker drohen dem autoritären Regime der Ukraine
mit einem Boykott der Fußball-EM. Wichtiger als solche Symbole sei
ein beharrliches Pochen auf Menschenrechte, sagt Marie von
Möllendorff von Amnesty International. Der Fall Timoschenko sei nur
einer von vielen.

Haben Sie verlässliche Informationen darüber, wie mit Julia
Timoschenko in der Haft umgegangen wird, ob sie wirklich
Misshandlungen oder gar Folter ausgesetzt ist?

Marie von Möllendorff: Wir kennen nur ihre Vorwürfe, sind darüber
besorgt und haben uns dafür eingesetzt, dass dies grundlegend
aufgeklärt wird. Wir halten es aber für problematisch, dass sich der
Blick momentan ausschließlich auf Julia Timoschenko richtet, weil
dies ausblendet, dass in der Ukraine systematische und schwerste
Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind — vor allem
Folter in Gefängnissen.

Erschwert die aktuelle politische Debatte die Arbeit von Amnesty
International (AI) also eher, weil sie von den eigentlichen Problemen
ablenkt?

Möllendorff: Nein, wir setzen uns auch für Julia Timoschenkos
Freilassung ein, weil wir der Ansicht sind, dass sie aufgrund
politisch motivierter Anschuldigungen verurteilt wurde und nicht
wegen international anerkannter Straftatbestände. Wir würden nur gern
den Blick etwas weiten, weil nicht nur die ehemalige Regierungschefin
Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. Schwere Formen von Folter
sind in den Gefängnissen des Landes weit verbreitet, viele Häftlinge
tragen bleibende Schäden davon. Auch Todesfälle in Haft sind keine
Seltenheit.

Warum erheben deutsche Politiker gerade jetzt ihre Stimme? Während
des Prozesses an sich und nach dem Urteil war die Empörung nicht so
laut hörbar, und die frühere Ministerpräsidentin ist nicht die
einzige Regimekritikerin, die im Gefängnis sitzt.

Möllendorff: Über die Motive der Politiker will ich nicht
spekulieren. Aber Großereignisse wie die Fußball-Europameisterschaft
werden eben oft zum Anlass für solche Kritik genommen. Hinzu kommt,
dass Julia Timoschenko sehr prominent ist. Wichtig ist, über den
kurzfristig aufflammenden Protest hinaus auch nach der EM für
Menschenrechte einzutreten.

Sind Sie fußballbegeistert?

Möllendorff (lacht): Ich werde mir die EM anschauen.

Möchten Sie deutsche Politiker auf der Tribüne sitzen sehen?

Möllendorff: Das muss jeder Politiker selbst entscheiden. Aber
wer zur EM reist, muss dort die Menschenrechtslage ansprechen.

Bundespräsident Gauck hat die Einladung von Präsident Janukowitsch
zum Mitteleuropa-Gipfel nach Jalta ausgeschlagen. Wie bewerten Sie
diese Absage?

Möllendorff: Auch das ist eine politische Entscheidung, die wir
nicht bewerten wollen. Noch einmal: Eine Verbesserung der
Menschenrechtssituation kann nur durch beharrliches Engagement
erreicht werden.

Befürchten Sie, dass Kiew nach dem EM-Finale nicht mehr am Pranger
steht?

Möllendorff: Natürlich besteht diese Gefahr. Aber wir werden uns
dafür einsetzen, dass das nicht so ist.

Immerhin darf Julia Timoschenko jetzt von einem deutschen Arzt
behandelt werden. Kann man das als Zeichen dafür werten, dass schon
Boykott-Drohungen wirken?

Möllendorff: Was die ukrainische Regierung antreibt, kann ich
nicht beurteilen. Wichtig ist, dass Frau Timoschenko eine
ausreichende und angemessene medizinische Versorgung erhält.

Warum prangert die Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen in
China oder in Russland nicht genauso vehement an wie die Missstände
in der Ukraine? Sind wirtschaftliche Interessen der Grund?

Möllendorff: Wir möchten grundsätzlich keine politischen
Bewertungen abgeben. Aber wir beobachten mit großer Sorge, dass sich
die europäischen Staaten bei Ländern, die wichtig für die EU sind,
etwa als Transitland oder als Ölexporteur, eher zurückhalten mit
ihrer Kritik. Aserbaidschan wäre ein Beispiel dafür. Wir fordern
deshalb, dass Menschenrechtsverletzungen unabhängig von der Bedeutung
eines Landes für die EU angeprangert werden

Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier
fordert, die Ukraine vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg zu verklagen. Unterstützen Sie diesen
Vorschlag?

Möllendorff: Es ist ja nicht so, dass sich der Gerichtshof in
Straßburg noch nicht mit der Ukraine beschäftigt hätte. Auch in den
Fall Timoschenko haben sich die Richter schon eingeschaltet. Wir sind
sehr froh, dass es den Gerichtshof gibt, und er hat schon mehrere
Urteile zur Folter in ukrainischen Haftanstalten gesprochen. Das
Problem dabei ist immer, dass der EGMR keine Sanktionsmöglichkeiten
hat. Oft werden zwar die Strafen gezahlt, aber das Grundproblem wird
nicht behoben.

Was können die Sportverbände für die Menschenrechte tun? Sollten
sie autoritäre Regimes bei der Vergabe großer Wettbewerbe
ausschließen?

Möllendorff: Auch da gilt, dass wir keinen Boykott fordern. Das
heißt nicht, dass wir die Sportverbände aus der Verantwortung
entlassen. Sie sollten solche Veranstaltungen im Rahmen ihrer
Möglichkeiten nutzen, um Aufmerksamkeit zu schaffen und sich zum
Beispiel deutlich für die Respektierung der Meinungsfreiheit
aussprechen. Aber gefordert ist in erster Linie die Politik.

Kapitän Berti Vogts will bei der WM 1978 in Argentinien keinen
einzigen politischen Gefangenen der Militärjunta zu Gesicht bekommen
haben. Sollten Sportler in den Stadien Flagge zeigen? Joachim Löw
könnte im orange Sakko am Spielfeld stehen.

Möllendorff: Flagge zeigen für die Menschenrechte, das ja. Wir
würden dem Bundestrainer aber kein oranges Sakko empfehlen, denn das
ist ein politisches Statement und nicht unbedingt an die
Menschenrechte gebunden. Es wäre ein Zeichen der Unterstützung einer
politischen Partei. Spieler sollten auf jeden Fall informiert und
sensibilisiert sein über Menschenrechtsverletzungen und die Art, wie
sich diese vollziehen. Ich bin sicher, dass Spieler und Funktionäre
mit Fragen konfrontiert werden. Es wäre gut, wenn sie sich im Vorfeld
und während der EM für die Menschenrechte im Gastgeberland einsetzen
würden.

Glauben Sie, dass Fußballer mit ein paar kritischen Worten das
Janukowitsch-Regime beeindrucken?

Möllendorff: Wirksam kann nur ein geschlossenes Auftreten sein.
Wenn es nur die Spieler sind, wird das nicht allzu viel bringen. Von
Politik, Öffentlichkeit und Teilnehmern muss ein klares Zeichen
gesetzt werden, dass Menschenrechtsverletzungen nicht geduldet werden
können. Und da ist dann auch wieder der lange Atem gefragt: Mit einem
Statement allein wird man wenig erreichen. Doch wenn man konstant
Verbesserungen einfordert, wird das langfristig Wirkung haben. Es hat
sich immer wieder gezeigt, dass die Regierungen solcher Länder
sensibel auf konsequente Kritik reagieren.

Ist die Kritik konsequent?

Möllendorff: Natürlich ist die mediale Aufmerksamkeit besonders
groß während solcher Veranstaltungen. Dies kann so sicher nicht
aufrecht erhalten bleiben. Die Bemühungen der Politik dürfen aber
nicht nachlassen. Das Thema Menschenrechte muss in alle Gespräche
einfließen.

Der Weg der Ukraine nach Europa führt also nur über Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit.

Möllendorff: Man muss alle Möglichkeiten nutzen, Verbesserungen
zu erreichen. Die Gespräche über einen möglichen EU-Beitritt sind da
gewiss eine gute Gelegenheit.

Das Gespräch führte Klaus Bohlmann

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