Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Fukushima/Energiewende von Christian Kucznierz

Es gibt zwei Ereignisse des frühen 21.
Jahrhunderts, die sich schon jetzt ins kollektive Gedächtnis
eingebrannt haben. Das eine ist der Einsturz der Zwillingstürme in
New York am 11. September 2001. Das andere ist die Kernschmelze im
japanischen Atomkraftwerk Fukushima am 11. März 2011. Beide markieren
einen Wendepunkt. Nach diesen Katastrophen kann und wird nichts mehr
so sein, wie es einmal war. „9/11“ hat die Illusion einer Welt ohne
ideologische Konflikte beendet. Fukushima steht für das Ende eines
Glaubens an technischen Fortschritt, der frei verfügbar ist, ohne
dass dafür ein Preis gezahlt werden muss – interessanter Weise mehr
noch als Tschernobyl. Damals, 1986, ereignete sich der Super-GAU in
einer anderen Welt, hinter dem Eisernen Vorhang. Die Wahrheit kam
erst spät ans Licht, die Auswirkungen waren zunächst unklar. Dafür
waren sie direkt erlebbar, als Eltern ihre Kinder nicht mehr auf
Spielplätze schicken durften, als Ausflügler lernen mussten, dass es
im Wald nicht nur Pilze, sondern auch Cäsium zu finden gibt. Es gibt
Parallelen zwischen dem, was vor 25 Jahren und was vor einem Jahr
geschah. Auch in Fukushima war die Wahrheit dehnbar, portionierbar
geworden, drang erst spät das volle Ausmaß der Katastrophe an die
Öffentlichkeit. Dafür aber dann mit voller Wucht. Zwei miteinander
verbundene Faktoren sind es, die das Reaktorunglück des 11. März
entscheidend für die Geschichte machen: Die Flut der Bilder und die
Tatsache, dass „es“ auch im Hochtechnologieland Japan geschehen
konnte. Schrecken wird vor allem dann real für diejenigen, die ihn
nicht erleben, wenn er sichtbar ist. Die Welt wurde in unendlich
vielen, oft zufällig gemachten Videos Zeuge von der
Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Super-GAU. Aber es ist
vor allem das Bild der Explosion des Kraftwerks, das – ähnlich dem
Bild, das den Einschlag der Passagiermaschine ins World Trade Center
am 11. September 2001 zeigt – , Schockwellen bis nach Berlin
entsandte. Die Frage ist nach wie vor, ob die Reaktion darauf in
Deutschland die richtige war oder nicht. Haben wir „überreagiert“
oder hat die restliche Welt, das restliche Europa, „unterreagiert“?
Warum müht sich Deutschland mit einer Jahrhundertaufgabe ab, während
im Ausland der Atomboom ungebremst weitergeht? Was nützt es, wenn die
Bundesrepublik atomkraftfreie Zone wird, wenn an den Grenzen die
Nachbarstaaten fleißig weiter Kernkraftwerke aufstellen? Nichts,
möchte man meinen. Doch das ist zu kurz gedacht. Deutschland hat in
diesem von einer kurzen, aber heftigen Kälteperiode heimgesuchten
Winter erlebt, wie eng es werden kann, wenn wirklich nur mehr
erneuerbare Energien unsere Stromversorgung sicherstellen. Das mag
auch nur deswegen funktioniert haben, weil es andere Länder gibt,
deren (nukleare) Kraftwerke Überschüsse produzieren. Aber es läuft
besser als befürchtet. Und wir sind noch nicht am Ende des Weges
angekommen. Fukushima kann nur als das gedeutet werden, was es war:
als Beleg für die Unbeherrschbarkeit einer Technologie. Selbst in
Japan, das den technischen Fortschritt der Neuzeit so entscheidend
mitgeprägt hat wie kaum ein anderes Land, war es den Technikern und
den politisch Verantwortlichen nicht möglich, die Katastrophe zu
vermeiden oder einzugrenzen. Es gibt keinen Plan für den Super-GAU:
Die Steigerung des „größten anzunehmenden Unfalls“, also das
Außer-Kontrolle-Geraten, ist ein statistisch zu kleiner Fall, um ihn
ins Kalkül zu ziehen – zumindest bis Fukushima. Aber während bei
einem Flugzeugabsturz die Rechnung mit der Unbekannten aufgehen mag –
soundsoviele Menschen fliegen täglich, während nur soundsowenige
sterben bei Abstürzen – ist das bei Atomkatastrophen nicht möglich.
Das Fortleben des Schreckens des Super-GAUs erleben die Menschen in
der Ukraine bis in die x-te Generation. Ja, es ist richtig:
Deutschland hat sich vielleicht das Leben selbst schwer gemacht,
indem es der Welt vormachen will, wie ein modernes Land ohne
Kernkraft auskommen kann. Aber neben allem Unsinn, der unter
Schwarz-Gelb beschlossen wurde, ist der Atomausstieg eine
bemerkenswerte Leistung. Er ist, was in der Politik selten geworden
ist: eine Vision. Visionäre sind immer zuerst alleine. Damit müssen
wir im Interesse unserer Kinder und Kindeskinder leben. Sie werden es
uns einmal danken.

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