Mittelbayerische Zeitung: SPD gewinnt die Mitte
Leitartikel zur Hamburg-Wahl

Eine Schwalbe, auch wenn sie auf ihrem
Höhenflug die Sonne zu berühren scheint, macht noch keinen Sommer: So
hell die SPD nach ihrem Triumph in Hamburg erstrahlt und so
deprimiert die CDU nach ihrem historischen Debakel daherkommt – mit
dem 20. Februar beginnt nicht die Kanzlerinnen-Dämmerung. Genauso
wenig läutet dieser Sonntag eine Renaissance der Sozialdemokraten
ein. Die Abstimmung funktionierte nach den eigenen Gesetzen einer
Landtagswahl. Bis gestern galten absolute Mehrheiten in einem
Fünf-Parteien-System als illusorisch. Doch der haushohe SPD-Sieg
zeigt, dass die Wähler sehr wohl ein klares Mandat vergeben können,
wenn ihre Frustration – so wie in der Hansestadt – alle
Toleranzschwellen überschritten hat. Ihr Votum ist die Quittung für
die tiefe Unzufriedenheit mit dem alten schwarz-grünen Bündnis und
die Rechnung für eine CDU, die sich mit der drohenden Niederlage
schon früh abfand. Beides machte es dem SPD-Spitzenmann Olaf Scholz
erst möglich, zu den Sternen zu greifen und sich vom Negativ-Trend
der Bundespartei abzukoppeln. Die Liste der schwarz-grünen Projekte
liest sich wie ein Protokoll des Scheiterns: Die Einheitsschule wurde
von den Bürgern per Volksentscheid einkassiert. Der Prunkbau
Elbphilharmonie entwickelt sich zu einem aberwitzigen Millionengrab.
Das Tafelsilber der Stadt wurde verkauft, während sich der
Schuldenberg bald auf 25 Milliarden Euro türmt. Und dann der
unrühmliche Abgang Ole von Beusts, der nach knapp zehn Jahren als
Bürgermeister die Lust an der Politik verloren hatte. Mit seinem
überraschenden Rückzug und dem Bekanntwerden pikanter privater
Details versetzte er der CDU einen Tiefschlag, vom dem sie sich unter
Kurzzeitbürgermeister Christoph Ahlhaus nicht erholen konnte. Nachdem
die Grünen das Regierungsbündnis platzen ließen, fiel Ahlhaus durch
einen blassen Wahlkampf auf, aus dem angesichts des drohenden
Debakels vor allem die Resignation sprach. Gleichzeitig erwies sich
der SPD-Kandidat Scholz als Musterschüler Gerhard Schröders.
Angesichts der Schwäche des politischen Gegners hätte es
wahrscheinlich auch zum Sieg gereicht, wenn die SPD gar nichts getan
hätte. Doch Scholz umwarb die Unternehmer ebenso wie die
Mittelschicht, anstatt sich in ideologische Kämpfe mit den Linken zu
verstricken. Die Reizthemen Hartz IV und Rente mit 67, die die SPD in
der Vergangenheit dezimierten, klammerte er einfach aus. Ihm gelang
es, mit den Slogans Solidität und Konsolidierung bei den Wählern zu
punkten und der CDU das Stammrevier abzujagen. Hamburg ist zwar ein
schmerzlicher Schlag für Angela Merkel, weil der schwarz-gelbe
Stimmenanteil im Bundesrat weiter schrumpft. Aber die
bundespolitischen Wirkungen sind – im Gegensatz zu den anstehenden
Wahlen – eher harmlos. Erst Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
könnten den Anfang vom Ende der Regentschaft Merkels einläuten.
Bemerkenswerte Lehren können dennoch aus der Wahl gezogen werden. Die
erste Erkenntnis: Die totgesagte FDP erfreut sich noch des Lebens –
wenn auch nur unter kräftiger Mithilfe frustrierter CDU-Wähler. Mit
ihren Leihstimmen halfen diese kräftig mit, dass Guido Westerwelle
nicht schon wieder eine Führungsdebatte ins Haus steht. Die zweite
Lektion erweist sich als bitter für die Grünen, die sich gewaltig
verkalkulierten. Sie ermöglichten die Neuwahlen und stehen nun mit
leeren Händen da. Außerdem verlieren sie nach der gescheiterten
Polit-Ehe im Norden bis auf weiteres die strategische Option auf ein
Bündnis mit der CDU. Die wichtigste Lehre betrifft die SPD: Sie wird
in Hamburg Kraft für Berlin tanken und gestärkt in die
Hartz-IV-Verhandlungen gehen. Doch wenn der gestrige Triumph nicht
eine Episode bleiben soll, muss SPD-Chef Sigmar Gabriel von Olaf
Scholz lernen: Wahlen werden nicht mit linken Sprüchen gewonnen,
sondern in der politischen Mitte.

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