Hinterher sind alle ganz erschrocken. Gelegentlich,
versehentlich vielleicht, wird in der Politik die ungeschminkte
Wahrheit ausgesprochen. Die reine Essenz, keine taktischen
Wahrheiten. So geschah es, als Finanzminister Wolfgang Schäuble
erklärte, dass eine europäische Börsensteuer so schnell nicht
zustande komme, nicht vor der Bundestagswahl 2013. Dafür spricht,
dass eine Steuer auf EU-Ebene und parallel von mehreren nationalen
Parlamenten beschlossen werden müsste. Ein Gesetzgebungsverfahren
zieht sich lange hin. Ein Jahr – ein parlamentarischer Wimpernschlag.
Von diesen Fakten zog die Opposition Rückschlüsse auf die Motive und
deswegen musste die Koalition gestern auf breiter Front widerrufen:
Schäuble, die Kanzlerin, die CSU in Berlin und München, die FDP –
alle beteuerten, dass sie es ernst meinen, dass sich Grüne und SPD
auf ihre Zusagen verlassen können. Ein kleiner SPD-Parteitag steht am
Samstag an. Dort möchte SPD-Chef Sigmar Gabriel verkünden, dass man
dem Fiskalpakt zustimmen könne; nachdem er die Kanzlerin zu einer
„180-Grad-Wende“ (Gabriel) gezwungen habe. Die Regierung Merkel hätte
erzählen sollen, dass die SPD ihr ein Zugeständnis abrang und nicht
etwas, was frühestens die nächste Regierung umsetzen wird. Diesen
süßen Selbstbetrug machte Schäuble zunichte, für Gabriel „das
Gegenteil von vertrauenswürdigem Verhandeln“. Wir aber könnten uns
daran gewöhnen: an die Wahrheit.
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