WAZ: Nur ein kurzer, wilder Traum? Leitartikel von Martin Gehlen

Im deutschen Bücherherbst werden sie ganz oben
liegen – die Reportagen und Bildbände vom arabischen Frühling. Die
Titel griffig, der Inhalt zu Herzen gehend: Endlich sind die Völker
aufgewacht, haben ihre Despoten davongejagt und ihre muffigen
Staatsgebilde durchgepustet. Arabischer Frühling – so heißt seitdem
die euphorische Chiffre für die großen Hoffnungsprojekte im Nahen
Osten, für den endlich bewältigten Quantensprung der islamischen
Kernregionen hin zu Modernität, Pluralität und Demokratie.
Historisches Markenzeichen oder nur ein kurzer, wilder Traum – noch
ist völlig offen, wie am Ende die Bilanz aussehen wird.

Inzwischen, sechs Monate nach der Flucht des tunesischen Diktators
Ben Ali, ist die Begeisterung über die spektakulären Volkstriumphe in
Tunesien und Ägypten weitgehend verflogen. Millionen junger
Aktivisten beißen sich an den alten Seilschaften die Zähne aus.
Islamisten beginnen mit intolerantem Eifer Unruhe zu säen. Und die
verbliebenen Potentaten wehren sich mit aller Gewalt gegen ihren
Sturz. In Libyen herrscht Bürgerkrieg, in Syrien Staatsterror, in
Bahrain Grabesruhe und im Jemen Staatszerfall.

Mit Tunesien und Ägypten dagegen haben bisher nur zwei der 22
arabischen Nationen ihre Diktatoren erfolgreich abgeschüttelt. In den
übrigen 20 Staaten dagegen – von gesellschaftlichem Frühling keine
Spur. Stattdessen hat sich eine neue Achse der Beharrlichkeit
herausgebildet – in Gestalt des illustren Golfkooperationsrates auf
der Arabischen Halbinsel. Um ihr politisches Territorium zu
arrondieren, wollen die reichen Emirate unter der Führung
Saudi-Arabiens jetzt sogar die armen Monarchien aus Jordanien und
Marokko in ihre antirevolutionären Zirkel aufnehmen. Ihren Verbund
verstehen die Emire und Könige als Bollwerk gegen wachsende
Mitsprache der Völker, freie Presse und freie Wahlen. Und sie sind
entschlossen, jede Unruhe in der Bevölkerung zu beantworten – mit
Sozialgeschenken, Polizeirazzien und Beugehaft für Kritiker. Niemand
weiß, ob die heute geschriebenen Bücher über den arabischen Frühling
nicht im nächsten Frühjahr bereits Makulatur sind.

Fazit: Die Demokratiebewegung in Ägypten ist entschlossen, sich
das Heft nicht aus der Hand nehmen zu lassen und bietet nun dem
Militärrat die Stirn. Sie ist damit das große Vorbild für die
Proteste in der arabischen Welt. Ägypten hat das Potenzial, den
beschwerlichen Weg in eine demokratischere Gesellschaft zu meistern –
und wird hoffentlich viele andere mitziehen.

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