Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Stuttgart 21:

Welch ein Dilemma: Ohne den Protest gegen
Stuttgart 21 wäre Winfried Kretschmann im März niemals zum ersten
grünen Ministerpräsidenten gewählt worden. Nach der Volksabstimmung
wird er seinen Anhängern jetzt erklären müssen, dass der Mega-Bahnhof
doch gebaut wird. Quorum verfehlt, Mehrheit für Stuttgart 21 – wie
auch immer das Ergebnis von Gegnern und Befürwortern interpretiert
werden mag: Die grün-rote Landesregierung wird das Baurecht der Bahn
durchsetzen müssen, egal wie groß der Widerstand in Zukunft sein
wird. Selbst wenn die Proteste stärker werden und es zu neuen
Ausschreitungen kommen könnte, muss der Minister gegen Demonstranten
vorgehen, vielleicht sogar mit Polizeigewalt. Das deutliche Ergebnis
der Volksabstimmung zeigt: Die Baden-Württemberger haben sich für den
Fortschritt und die Schaffung von Arbeitsplätzen entschieden. Sie
haben gleichzeitig das Land vor einer Blamage bewahrt. Denn nichts
anderes wäre ein sofortiger Baustopp gewesen. Für die Grünen ist
diese Volksbefragung eine ganz bittere Niederlage. Sie sind zuletzt –
auch wegen Stuttgart 21 – als eine Dagegen-Partei bezeichnet worden.
Das Beispiel Bahnhofsneubau zeigt, dass die Grünen, wenn sie einmal
in Regierungsverantwortung sind, plötzlich in Konflikte geraten. Dass
unter ihrer Regie nun ein Bahnhof gebaut wird, gegen den sie selbst
so vehement gekämpft haben, trifft ihre grüne Seele besonders hart.
Der Ministerpräsident hat angekündigt, das Ergebnis zu akzeptieren.
Er wird das Votum umsetzen. Das Problem ist aber, dass es bei den
Grünen Stimmen gibt, die die hohen Hürden bei der Volksabstimmung für
undemokratisch halten. Sie kritisieren zum einen die komplizierte
Fragestellung, zum anderen aber auch das hohe Quorum. Winfried
Kretschmann wird das Infrastrukturprojekt zwar vorerst nicht stoppen
können. Aber er hält sich ein Hintertürchen offen. Denn sollte der
vereinbarte Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro nicht eingehalten
werden, wird der Ministerpräsident erneut alles dafür tun, aus der
Finanzierung auszusteigen. Somit hat Kretschmann eine Art grüne
Beruhigungspille in der Hand, die er seinen Anhängern verabreichen
wird. Ob er diese die Gemüter jedoch besänftigen kann, darf
bezweifelt werden. Bahnchef Rüdiger Grube wird das Ergebnis
wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Dass er nicht sofort weiterbauen
will, sondern erst, wenn die Wogen sich geglättet haben, zeigt aber,
dass er selbst nicht von einer störungsfreien Bauphase ausgeht.
Stuttgart wird nicht zur Ruhe kommen. Neue Proteste und
Demonstrationen sind angekündigt. Für heute haben die Gegner zur 101.
Montagsdemo aufgerufen. Die Landesregierung muss sich auf alles
gefasst machen. Und für den grünen Ministerpräsidenten und seine neue
Baustelle hat der Stresstest längst begonnen.

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