Mittelbayerische Zeitung: „Die Revolution bleibt aus“ / Kommentar der Mittelbayerischen Zeitung zur neuen Bundesregierung

Es gibt eine Anekdote aus der Zeit, als Horst
Seehofer noch frisch im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten war.
Wenn einer seiner Minister eine Zeit lang nicht medial präsent war,
schickte der Chef ihm oder ihr angeblich eine SMS mit der Frage: „Wo
bleibt die Revolution?“ Es ist eine SMS, die Seehofer, jetzt
Innenminister und immer noch CSU-Chef, in Berlin flächendeckend
verbreiten könnte. In seinem eigenen Haus auch, und das nicht nur
wegen der nicht vorhandenen Frauenquote. Seehofer macht derzeit in
Berlin das, was er in München auch schon gemacht hat: Er vereinfacht
Dinge in der Hoffnung, die Bürger würden seine Politik als die
glaubhaftere, ernsthaftere ansehen. Andere würden sagen: Er fischt am
rechten Rand nach Stimmen. Und das ist auch nicht ganz von der Hand
zu weisen, wenn man seine Aussagen zum Islam nimmt oder seinen Plan,
ein Abschiebezentrum zu bauen, das passenderweise kurz vor der
Landtagswahl in Bayern eröffnen würde. Er selbst würde das weit von
sich weisen und damit argumentieren, dass das Thema Migration
schließlich dazu geführt habe, dass den etablierten Parteien die
Wähler weggelaufen sind und ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben. Zu
einem Teil hat er damit sogar Recht. Aber eben nur zum Teil.
Seehofers vereinfachte Version des alten CSU-Credos, wonach man dem
Volk aufs Maul schauen müsste, hat in der Vergangenheit eben nicht
immer funktioniert. Siehe das Wahlergebnis der Christsozialen bei der
Bundestagswahl, das der entscheidende Grund dafür war, dass Seehofer
in München vom Hof gejagt wurde und nun in Berlin sein
Austragsstüberl bekommen hat. Das Problem ist nicht die Art der
Ansprache an die Wähler. Das Problem ist, dass nicht die richtigen
Wähler angesprochen werden. Die gute Nachricht für Seehofer: Er ist
mit diesem Problem nicht alleine. Die SPD müht sich in diesen Tagen
einmal mehr mit dem alten Gespenst aus Gerhard Schröders Tagen ab:
Hartz IV. Wobei hier die Frage aus der Seehofer-SMS schon beantwortet
ist: Die Revolution bleibt aus. Der Grund dafür ist einfach: Der SPD
fehlt der Mut – auch für die Erkenntnis, dass sie das Gefühl für die
Menschen verloren hat. Ihre Wähler sorgen sich nur bedingt um Fragen
wie die nach einem bedingungslosen Grundeinkommen oder um die Höhe
der Hartz-IV-Leistungen. Ihre Wähler sind, wie die der Union, der
Grünen oder der FDP in den seltensten Fällen mit einer
Lebenssituation konfrontiert, die eine Grundsicherung nötig machen
würde. Mit anderen Worten: Alle Parteien haben es sich in der Mitte
bequem gemacht, wo die Altersbezüge der Menschen vielleicht nicht
üppig, aber ausreichend sind, wo die Einkommen solide, die Immobilien
finanziert und die Kinder versorgt sind. Es ist kein Wunder, dass
kaum einer mehr einen wirklichen Unterschied zwischen Rot, Schwarz,
Grün oder Gelb erkennt. Wobei die FDP wenigstens ehrlich genug ist,
die meisten Wähler durch eine an Arroganz grenzende Direktheit zu
verprellen. Weil Wahlen in der Mitte (noch) gewonnen werden können,
denkt die Politik den Rest nicht mehr mit. Und wenn ein Politiker
eine Revolution fordert, wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt
das tat, faselt er vom Bedarf an konservativen Werten. Als ob in
Berlin, München, Hamburg oder Köln und dazwischen die Menschen in
linksalternativen Kommunen lebten. Es sind nicht die Wähler, die eine
Revolution brauchen. Es sind die Parteien. So wichtig für die
Stabilität dieses Landes eine Regierungsbildung war, so bedauerlich
ist das, was sich jetzt abzeichnet: ein Missbrauch der Bundespolitik
für einen Landeswahlkampf der einen Partei, ein Geeiere über
Machterhalt oder Reform bei der anderen. Wer auf Neues in Deutschland
hofft, muss ein Scheitern dieser Koalition herbeisehnen. Und das ist
eine erschütternde Feststellung.

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