Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel / Maaßens Anmaßung / Wer als Stichwortgeber der AfD agiert, Ausschreitungen verharmlost und der Kanzlerin widerspricht, müsste eigentlich gehen. Doch Horst Seehofer braucht ihn.

Von Reinhard Zweigler

Die politischen Nachwehen der Ereignisse von Chemnitz tragen immer
bizarrere Züge. Angela Merkel und Horst Seehofer liegen über die
Deutung dessen, was in den vergangenen zwei Wochen nach dem Mord an
einem Deutsch-Kubaner geschehen ist, kräftig über Kreuz. Der gerade
vor ein paar Wochen notdürftig gekittete Streit in der Union über die
Flüchtlingspolitik erlebt seine sinnlose Fortsetzung. Die
Selbstverstümmelungsaktion innerhalb der Union, wie es
Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammer nennt, wird ungeniert
fortgesetzt. Neu ist jetzt, dass sich auch der Chef einer großen
Bundesbehörde anmaßend einschaltet. Der sonst eher biedere
Verfassungsschutzpräsident Georg Maaßen greift dabei in einer Weise
in die politische Debatte und in laufende Ermittlungen ein, dass es
einem schwerfällt zu glauben, er habe das ohne Wissen und vielleicht
sogar ohne Auftrag seines obersten Dienstherren Horst Seehofer getan.
Die Rückversicherung bei der Regierung gehört für den Chef einer so
sensiblen Behörde und bei einem so brisanten Geschehen sozusagen zur
Funktionsbeschreibung. Wer wie Georg Maaßen den Rechtsextremen und
der AfD Stichworte liefert, wer Bilder von Ausschreitungen am Rande
von Demonstrationen, von Angriffen auf Migranten als Fälschungen, als
Fake-Videos, abqualifiziert und damit der Kanzlerin, der
Generalstaatsanwaltschaft sowie Augenzeugen widerspricht, der muss
Gründe dafür haben. Zumindest müsste er das, was er via Bild-Zeitung
in die Welt hinausposaunte, stichhaltig beweisen können. Kann er das
aber nicht, muss er gehen. Und zwar sofort, auch um den
Inlandsgeheimdienst, der die Verfassung schützen soll, vor weiterem
Schaden zu bewahren. Es könnte sein, dass der eher pedantische und
nicht zu Zuspitzungen neigende Maaßen im vorliegenden Fall der Sack
ist, den man schlägt, nicht aber der Esel, den man eigentlich meint.
Dass sein Dienstherr, Bundesinnenminister Seehofer, weiterhin zu ihm
hält, kann eigentlich nur damit erklärt werden, dass er Maaßen noch
als Stachel gegen die Bundeskanzlerin braucht. Eine offene Frage wäre
dann freilich, warum der sich so vor die politische Karre des
CSU-Chefs spannen ließe? So oder so wird der Chef des
Verfassungsschutzes dem Innenausschuss des Bundestages in dieser
Woche viel zu erklären haben. Wenn er dann noch im Amt sein sollte.
Doch selbst bei einem Rücktritt oder einer Versetzung von Maaßen in
den Ruhestand wäre das politische Scharmützel noch längst nicht
beendet. Den Schlüssel zur Aufklärung der leidigen Geschichte hat
Horst Seehofer in der Hand. Eines allerdings hat der umtriebige
Innenminister bereits erreicht, er hat Merkel weiter beschädigt,
Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit genährt – kurz er hat die von ihm
mitgetragene Koalition weiter geschwächt. Glückwunsch, Herr Seehofer.
Und das alles, um in Bayern aus dem Umfragetief vor der Landtagswahl
herauszukommen? Allerdings sieht es derzeit danach aus, dass die
kurzsichtige Taktik des CSU-Chefs, das Schielen nach der AfD und
ihrem einzigen Thema Flüchtlinge, nicht aufgehen sollte. Je mehr sich
Seehofer – anders übrigens als Markus Söder, der zurzeit als oberster
Kümmerer durch den Freistaat zieht – den Merkel-muss-weg-Gauland,
-Weidel und -Meuthen annähert, umso mehr verprellt er auf der anderen
Seite bürgerlich-liberale Wähler. Den Beifall für die halbgaren
Äußerungen Maaßens und für Seehofers sibyllinischen Kommentare zu
Chemnitz gibt es jedenfalls nur von ganz Rechts. Die AfD klatscht
über so viel verbalen Rückenwind aus dem Regierungslager in die
Hände. Und die Rechtsextremen fühlen sich ermuntert, nun erst Recht
Straßen und öffentliche Räume zu besetzen.

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