Man kann darüber streiten, ob das Verhalten des
„Sterns“ redlich und journalistisch sauber ist. Die Geschichte über
„den spitzen Kandidaten“ Rainer Brüderle ist bewusst auf Tabubruch
und Auflage gebürstet. Das schwächt die Bestandsaufnahme der
Journalistin, die man hätte besser stützen können: durch Recherchen
bei anderen Frauen im Politikbetrieb und in anderen Jobs.
Erstaunt und bestürzt stellt man aber fest: die wenigsten reden
jetzt darüber, ob ein Politiker sich eigentlich so verhalten darf,
wie es Rainer Brüderle vorgeworfen wird. Sexismus ist immer noch
derart salonfähig, dass die Frau, die ihn öffentlich macht, im
Zentrum der Kritik steht. Es stimmt, die Reporterin hat schwere
Vorwürfe erhoben. Aber es gibt keinen Grund, ihr – anders als anderen
Journalisten, die erlebte Szenen schildern – nicht zu glauben. Was
Laura Himmelreich schildert, ist glaubwürdig, denn es ist leider
Alltag. Es reicht eine kleine Umfrage in egal welchem Bekanntenkreis
unter den anwesenden Frauen: Die Geschichte spiegelt eine zentrale
Erfahrung, die Hunderttausende Frauen im Beruf immer noch machen,
egal ob Vorstandssekretärin, Bankangestellte, Ärztin oder
Journalistin.
Darin läge doch nun eigentlich die Chance der ganzen Geschichte,
auch für Politiker, die in einem Wahljahr stehen: die journalistisch
etwas fragwürdige Geschichte trotz allem als Anlass zu nehmen für
eine Debatte – über den Irrtum, wonach wir Sexismus überwunden
hätten. Darüber, wie man es Frauen ermöglichen kann, mit dem
Weglächeln aufzuhören. Über eine moderne Gesellschaft, deren
Repräsentanten nicht nur offiziell, sondern auch jenseits des
Protokolls endlich Abschied nehmen vom immer noch
testosterongetränkten männlichen Rollenbild, zu dem es am Ende
gehört, abends an der Bar den jungen Frauen zu sagen, wo es langgeht.
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